Spaziergang im Park
Es war klar, die Rente von Krupp reichte vorne und hinten nicht, daran änderte auch das Weihnachtspaket der Firma nichts, das pünktlich in der Woche vor Weihnachten vom Postboten abgeliefert wurde. Es stand für Ella sowieso nicht zur Debatte, ihre Mutter ins Altenheim zu bringen. Die alte Frau hatte zwei Kriege erlebt, den Mann und zwei Söhne vor Stalingrad verloren. Die Witwenrente war knapp, also zog Oma mit ein, als die Familie Mitte der 50er Jahre eine größere Wohnung bekam. Ella freute sich: Wohnzimmer, Schlafzimmer, ein Zimmer für beide Kinder und der schmale Schlauch, in dem Omas Bett stand.
Jahrelang war Oma eine große Hilfe, keine Frage. Klug und bescheiden – gegen Abend zog sie sich zurück, die jungen Leute bräuchten Zeit für sich – verschaffte sie ihrer Tochter Ella einen Freiraum, den diese auch nutzte. Ella konnte sich wirklich nicht beklagen, hätte sogar arbeiten können, wenn Walter das nicht peinlich gefunden hätte. Was sollen die Leute denken!
Aber dann wurde Oma tüdelig. Verbaselte dies und das, legte den Schlüssel in den Besenschrank, vergaß, die Kartoffeln aufzusetzen. Die Kinder fanden Oma eines Tages vor dem Kühlschrank sitzen, als sie aus der Schule nach Hause kamen. Aber das Blut, das ihr am Kinn hinunterlief, stellte sich als Rote-Beete-Saft heraus. Essen und Trinken wurde zu ihrer Lieblingsbeschäftigung. Walter zog die Stirn kraus, sagte aber nichts. Es war Ellas Mutter, ihr Problem.
Und dann wurde Ella noch einmal schwanger, ein goldener Schuss – wie sie zum Entsetzen ihres Gatten sagte – und alles änderte sich. Oma wachte auf. »Dumme Gans«, sagte sie zu ihrer mittlerweile 42-jährigen Tochter, die sich endlich traute, ihrer Mutter zu beichten, dass sie schwanger war. »Hast wohl nicht aufgepasst!« Ella war verblüfft. Sie war das sechste Kind ihrer Mutter- vorher alles Jungen – und sie wusste aus Erzählungen, dass ihre Mutter damals so sauer über die Schwangerschaft war, dass sie monatelang nicht mehr mit ihrem Mann gesprochen hatte.
»Du warst doch auch über vierzig«, stotterte sie.
»Und«, sagte Oma, »das ist 40 Jahre her. Habt ihr nichts gelernt?«
Ella schwieg. Sie war fit, fühlte sich jung und gesund, freute sich auf den Nachkömmling. Oma wohl auch, denn als das Baby geboren wurde, funktionierte auf einmal ihr Gehirn perfekt. Sie konnte wieder kochen und waschen, löste Kreuzworträtsel und versteckte keine Schlüssel mehr. Sogar ihr Gewicht regulierte sich.
Ihre Lieblingsaufgabe war, mit dem Baby im Park spazieren zu gehen. Da kam sie stundenlang nicht wieder. Traf andere Großmütter, plauderte und saß in der Sonne auf der Parkbank und fütterte den Kleinen mit dem Fläschchen, das sie vorsorglich – in dicke Tücher gehüllt – mitgenommen hatte.
Deswegen machte sich Ella erst auch keine Sorgen, als ihre Muttern an einem kühlen Dezembernachmittag nicht aus dem Park zurückkam, obwohl es bereits dämmerte. Aber langsam wurde ihr mulmig, die größeren Kinder saßen gebannt vor dem neuerstandenen Fernseher, und sie sagte ihnen, sie müsse mal eben kurz weg.
»Wo ist Oma?«, fragte die große Tochter.
»Eben«, sagte Ella und griff ihren Mantel.
Im Park war kein Spaziergänger mehr zu sehen. Nebel waberte zwischen den Büschen. Ella stellte den Kragen auf. Ihr Herz fing an zu pochen und sie eilte auf den altbekannten Wegen entlang und hielt Ausschau nach einer alten, schwarzgekleideten Frau, die sich beim Gehen auf einen Kinderwagen stützte. Ihre Schritte beschleunigten sich. War ihre Mutter gefallen? Hatte sie sich verirrt? Unwahrscheinlich, denn den Park kannte Mutter doch wie ihre Westentasche.
Ella kam zu dem kleinen See, an dem man im Sommer Ruderboote ausleihen konnte. Auf der Bank vor dem Kiosk saß eine einsame, schwarze Gestalt und ruckelte einen Kinderwagen hin und her.
Ella wollte rufen, aber irgendetwas hielt sie davon ab. Das Gesicht ihrer Mutter war seltsam ausdruckslos, die Augen starr auf den See gerichtet.
»Mutter?«, sagte Ella leise, als sie näher kam.
Zu ihrer Erleichterung entspannten sich die Züge der alten Frau. Die Lippen verzogen sich zu einem Lächeln.
»Du hast aber lange gebraucht, uns abzuholen«, sagte sie. »Der Kleine wird sich erkälten.«
»Was, was«, stotterte Ella. »Ich wollte euch doch gar nicht ab…«
Etwas im Blick ihrer Mutter ließ sie verstummen. Sie trat an den Kinderwagen, um nach ihrem Sohn zu sehen. Bis zum Hals zugedeckt von einer geblümten Decke lag eine Puppe im Wagen und glotzte sie aus fahlen blauen Augen an. Ella schrie.
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