Archive for Juli 2024

 
 

Zugfahrt erster Klasse – ein poetry slam

Wer Lars von Triers Film
Melancholia
gesehen hat, weiß,
dass schwer depressive Menschen
erst angesichts des Weltuntergangs
zu großer Form auflaufen,
von ihrer Depression geheilt werden:
tanzen und singen und lachen.
Auch im Fall von Gesa
fühlte sich ihr Therapeut
hilflos überfordert
angesichts ihrer hartnäckigen
depressiven Verstimmungen
und ihrer negativen Weltsicht.

Für Sie ist das Glas
immer halb leer
,
sagte er und hatte die geniale Idee,
Gesa mit der Deutschen Bahn
kreuz und quer
durch Deutschland zu schicken.
Eine so unorthodoxe Maßnahme,
dass die Krankenkasse
sich weigerte,
die Kosten zu übernehmen.
Der Therapeut
konnte nur hoffen,
dass auf der Reise
nicht alles glatt lief.
Das aber war
bei der Deutschen Bahn
ja auch höchst unwahrscheinlich.

Die erste Enttäuschung:
Der IC von Bremen nach Dortmund
hielt – wie angekündigt – auf Gleis 8.
Und das auch noch pünktlich.
Der Erste-Klasse-Wagen war
genau dort angehängt,
wo die Schautafel es anzeigte.
Noch nicht einmal
ihr reservierter Fensterplatz
war besetzt.
Missmutig kauerte sich
Gesa in ihren Sitz und
zog Watzlawicks
Anleitung zum Unglücklichsein
aus der Tasche.

Schwermütig nickte sie schließlich ein,
wurde aber kurz nach Osnabrück
vom Lautsprecher
mit der dröhnenden Frage
geweckt
ob jemand von
der Bundespolizei an Bord sei.
Mit einem Ruck
richtete Gesa sich auf.
Wahrscheinlich nur so ein Typ
ohne Fahrschein,
der Rabatz macht
,
beruhigte sie munter
die ältere Frau
auf der anderen Seite des Ganges,
die mit angstvoll
aufgerissenen Augen
fragte, ob Terroristen
an Bord seien.
Waren Polizisten zu sehen?
Wurde jemand in
Handschellen abgeführt?
Gesa drückte sich die Nase
an der Scheibe platt.
Nichts.
Ihre Laune
sank wieder.

Die Fahrgäste mögen
Geduld haben.
Man werde versuchen,
die Verzögerung aufzuholen,
schepperte der Lautsprecher.
Der IC holte die Verzögerung
selbstverständlich nicht auf.
Gesa blickte auf die Uhr.
Der Regionalzug nach Köln
würde weg sein.
Sie kicherte zufrieden
vor sich hin.

In Dortmund schulterte sie
ihren Rucksack,
schleppte das schwere Ding
die lange Treppe hinunter
um nach 25 Stufen
festzustellen,
dass Gleis 16
neben Gleis 11 lag.
Am selben Bahnsteig,
an dem sie angekommen war,
nur auf der gegenüberliegenden Seite.
Die Logik dieser Anordnung
erschloss sich ihr nicht wirklich,
aber ihr wuchsen
ungeahnte Kräfte,

als sie feixend die steilen Stufen
wieder hinaufrannte.

Am Gleis eine unverständliche
Lautsprecherdurchsage.
Irgendwas was mit Hamm.
Wo um Himmels willen lag Hamm?
Fuhr ihr Zug über Hamm?
Nicht über Köln?
Müsste sie
als Zugreisende
einen Reiseatlas
mit sich herumtragen?
Worte wie: Gleise gesperrt
und Tagesbaustelle knarzten
schwerverständlich
aus dem Lautsprecher.
Die Laufschrift auf der Tafel
über ihr kündigte an,
dass der Zug
dreißig Minuten
Verspätung hatte.
Zufrieden lächelnd
wollte sie sich
auf eine der kalten,
metallenen Bänke setzen,
aber der Schnösel vor ihr
war schneller.
Gesa strahlte, pulte
ihr Handy aus dem Rucksack,
scheiterte an der Technik,
wandte sich hilfesuchend
an einen seriös aussehenden Herrn
im Business-Outfit,
der mit hochrotem Kopf
und gelockerter Krawatte
wild sein I-phone schüttelte.
Der Bahnvorstand
gehört in Ketten gelegt.
Am Stachelhalsband müsste man

diese kriminelle Bande
über die Schienen ziehen,
diese gierigen Boni-Ritter!
Er wischte sich
mit dem Handrücken über
die schweißnasse Stirn.Was ist das denn für einer?
Gesa schüttelte den Kopf,
ging hastig ein paar Schritte
rückwärts, pfiff ein Liedchen,
zog die Tageszeitung
aus dem Rucksack
und vertiefte sich
in die Horrormeldungen:
Krieg, Überfälle,
Messerattacken, Pleiten …

Leider kam der Regio,
ehe sie die Zeitung
zu Ende gelesen hatte.
Doch das war ihr
ganz recht,
denn sie fühlte
ein dringendes menschliches
Bedürfnis.
Sie stieg in den Waggon,
warf einen Blick
in die Zugtoilette
und prallte zurück.
Dann nahm sie die Hände hoch,
pinkelte im Stehen.
Wie Manneken Pis,
freute sich Gesa.
Sie brach in
glucksendes Gelächter aus,
das sich noch steigerte,
als sie die Klotür öffnete,
in die brummigen Gesichter
der Mitreisenden schaute.
Frauenpower, sagte sie,
und machte übermütig
ein paar Tanzschritte.

Wie langweilig,
dachte Gesa,
als sie in Frankfurt sah,
dass genügend Zeit war,
den Zug nach Mannheim
ohne Hektik zu erreichen.
Ihre Stimmung hob sich
jedoch schlagartig,
als sie bemerkte,
dass die Türen des
gläsernen Fahrstuhls
auf dem Bahnsteig offen standen
und zwei junge Männer
in blauen Monteuranzügen
an ihnen herumwerkelten.
Ein wütender Radfahrer
in voller Verkleidung
plusterte sich auf.
Wie er nun das Rad auf den anderen
Bahnsteig befördern solle.
Tragen Sie es doch einfach,
sagte Gesa und zwinkerte ihm
spitzbübisch zu:
So sportlich wie Sie aussehen!

Sie schaute
auf die Bahnhofsuhr,
als sich der Zug
in Bewegung setzte.
Pünktlich wie die Deutsche Bahn,
fiel ihr ein und
ihre Laune sank wieder.
Dass an der nächsten Station
die Tür im hinteren Teil
des Wagens nicht aufging,
beruhigte Gesa ungemein.
Hysterische Stimmen,
Fäuste, die gegen die
Türverkleidung schlugen,
die jammernde Stimme
einer älteren Dame.
Gesa war begeistert.
Zwischen Koblenz und Mainz
blieb der Zug endgültig stehen.
Wir bitten alle Passagiere,
den Zug zu verlassen.
Die Lokomotive ist defekt.
Ich wiederhole:
Die Lok ist defekt!
Gesa konnte sich nicht mehr halten.
brach in brüllendes
Gelächter aus.
Sie konnte nichts dafür.
Die Lachsalven explodierten
in ihrem Inneren,
kamen wie Blasen
aus ihrem Mund
.

Kommen Sie,
sagte eine dunkle Männerstimme
in ihrem Rücken.
Gesa drehte sich um.
Es war ihr Therapeut.
Ich bin auf der Suche
nach meinem Ich
,
sagte er.
Ich habe mir
eine Zugfahrt
verordnet
, um
mich wiederzufinden
.

Ich helfe Ihnen
bei der Suche.
Gesa lächelte ihn
freudig an.
Am späten Abend
kamen sie gemeinsam
in Mannheim an
und nahmen die Straßenbahn
nach Heidelberg,
da die S-Bahn aus
technischen Gründen
ausgefallen war.
Gut gelaunt und fröhlich lachend
schlenderten sie
Arm in Arm
durch die Altstadt,
besichtigten die Heiliggeistkirche
und beschlossen spontan,
an Ostern zu den festlichen
Klängen der Orgel
zum Altar zu schreiten.
Eigentlich verdanken wir
Herrn Mehdorn unser Glück
,
und den ehrenwerten Vorständen
der deutschen Bahn
sagte Gesa
und küsste ihren Verlobten.
Wir werden ihnen allen
eine Einladungskarte
zu unserer Hochzeit schicken
.
Leider ist weder Herr Mehdorn
noch einer der anderen Herren
vom Vorstand gekommen,
obwohl sie doch alle
dicke Geldbündel kassiert haben
als Belohnung für das
störungsfreie Funktionieren
der Deutschen Bahn.

989 Worte

6833 Zeichen

Nach 50 Ehejahren

(frei nach Loriot)

 

Er köpft langsam und konzentriert das Frühstücksei. Sie trinkt einen Schluck Kaffee und schaut ihn fragend an.

 

Er: Was schaust du mich so an?

Sie: Du hast mitten im Satz aufgehört zu sprechen.
Er: Was wollte ich denn sagen?

Sie: Ja, das würde ich auch gern wissen.

Er. Ach ja, wo wollen wir heute hinfahren?

Sie: Du meinst mit dem Rad?

Er: Natürlich, wie denn sonst?

Sie: Ich meine ja nur. Was schlägst du vor?

Er: Zum Wümmeblick!

Sie: Zu welchem Wümmeblick?
Er: Dem Wümmeblick. Kennst du doch!

Sie: Kenne ich? Habe im Moment kein Bild!
Er: Das Lokal Zum Wümmeblick!

Sie: An der Wümme? Oder an der Hamme?

Er: Der Wümmeblick liegt an der Wümme. Wie der Name schon sagt.

Sie: Du weißt, ich verwechsle immer Wümme und Hamme.

Er: Also, jetzt werde mal nicht dement. Die Hamme fließt durch Worpswede. Die Wümme nicht.

Sie: Sorry, ich habe einen Blackout. Wo genau ist noch die Wümme?

Er: Da, wo die Schleuse liegt.

Sie: Welche Schleuse?

Er: Das Lokal „Zur Schleuse!“?

Sie: Da, wo wir immer mit Rena zum Geburtstag …

Er: Genau. Wo wir immer Renas Geburtstag gefeiert haben.

Sie: Ja, die Schleuse sehe ich jetzt vor mir. Was war das Essen immer lecker! Und wo ist der Wümmeblick?

Er: Wir fahren über Werschenrege.

Sie: Hä?

Er: Werschenrege!

Sie: Werschenredge? Wie kommen wir nach Werschenrege?

Er. Wie immer. Über Platjenwerde …
Sie: Ach so ja, wo die Horstens gewohnt haben?

Er: Genau

Sie: Dann sag das doch gleich. Wo die Horstens ihr Haus hatten

Er. Dann zur B6

Sie: Nicht zur B74?

Er: Nein, die B74 führt nach OHZ.
Sie: Immer diese blöden Zahlen. Wie soll ich wissen, wo die B74 hinführt?

Er: Die sind wir schon 1000mal gefahren.

Sie: OK. Wie du meinst.

Er: Wir überqueren die B6 und kommen nach Werschenrege.

Sie: Ist das der Ort mit der kleinen Kirche, wo wir vor ein paar Jahren den Theologen Eugen Drewermann gehört haben?

Er: Wen bitte?

Sie: Siehst du, du kennst die B6, aber Eugen Drewermann vergisst du.

Er: Der hat mich nie interessiert.

Sie: Typisch! Er hat Märchen tiefenpsychologisch analysiert Sehr spannend.

Er: Aha!

Sie: Außerdem wohnt Birgit auch in der Nähe. Das hättest du gleich sagen können, dann hätte ich sofort gewusst, wo Werschenrege ist. Unsere Friseurin übrigens auch.

Er: Wer auch?

Sie: Die wohnt auch in Werschenrege?

Er. Welche Friseurin?

Sie: Jetzt zeigst du aber Anzeichen von Demenz. Deine Friseurin! Die Uta!

Er: Welche Uta?

Sie: Die dir die Haare schneidet!

Er: Lassen wir das! Also über die Hamme …

Sie: Du hast doch gesagt „Wümme …

Er:Herrgott, nein! Die kleine Hammebrücke führt zur B 74

Sie: Ist das die Brücke, wo unsere Tochter vor ein paar Jahren unbedingt schwimmen wollte? In diesem braun-schlammige Moorwasser mit den vielen Seerosen.

Er: Daran erinnere ich mich nicht!

Sie: Natürlich nicht. Waren ja auch Blumen und keine Zahlen …!

Er: Jetzt bleib mal ganz ruhig. Nach einem Kilometer überqueren wir die B74 und fahren an der Kirche Neu Sankt Jürgen vorbei.

Sie: Ach ja, hat dort nicht deine Kollegin Gisela geheiratet? War sehr romantisch! Wirklich! Wenn wir noch einmal heiraten …

Er: Das überlege ich mir aber noch, wenn du dich weiter so begriffsstutzig anstellst?

Sie: Wer ist hier begriffsstutzig? Du vergisst alle wichtigen Ereignisse! Muss ich mir langsam Sorgen machen um deinen Verstand?

Er: Das sagst ausgerechnet du? Du weißt noch nicht einmal, wo der Wümmeblick ist.

Sie: Weil, das Lokal heißt nicht Wümmeblick.

Er: Was?

Sie: Warte mal, ich gucke mal bei Google nach. Du meinst „Hövdeich“! Das Lokal hieß früher „Hövdeich“. Und da sind wir oft übergesetzt. Von der anderen Seite aus. Da war dieser freundliche italienische Bootsmann, der immer mein Rad angenommen und im Boot festgemacht hat. Weißt du noch, wie der hieß? Antonio? Oder Silvio? Nein, ich weiß Rudolfo. Ein hilfsbereiter Mann war das! Und gutaussehend!

Er. Wie du meinst! Vielleicht hättest du den fragen sollen, ob er dich in St. Jürgen zum Altar führen will.

Sie: Jetzt wirst du aber komisch, mein Lieber! Aber warum machst du auch alles so kompliziert, wenn du nur einen Weg erklären sollst! Wenn du gesagt hättest, wir müssten bei Horstens ehemaligem Haus vorbei, dann Richtung Birgit, die Kirche von Drewermann rechts liegen lassen, an der Kirche, in der Gisela geheiratet hat, vorbeistrampeln und die Brücke, unter der unsere Tochter schwimmen wollte, überqueren, um endlich in Hövdeich anzukommen, wo wir vor ein paar Jahren auch unseren ehemaligen Pfarrer getroffen haben, der wohl eine neue Lebensgefährtin hat. Der Arme, so früh verwitwet. Ich gönne ihm sein neues Glück! Auf jeden Fall hätte ich sofort verstanden, wo du hinwillst. Und wir wären schon unterwegs, mein Lieber!

Er: Und mein Gehirn hätte vor lauter Namen den Plan einer Radtour längst aufgeben.

Sie: Tja, mein Lieber, Männer und Frauen passen einfach nicht zusammen. Noch nicht mal die grauen Zellen passen zueinander. Und nun lass uns losfahren. Mittags soll es anfangen zu regnen.

Er: Wie du meinst, Erna! Wie du meinst!:

 

Ins Publikum:
Er: Ich bringe sie um!! Eines Tages bringe ich sie um!

Am Strand von Gelting

 

Wir hocken am Strand auf dem leicht erhöhten hölzernen Strandweg Bretterweg am Rand der Dünen, schauen auf das in der Sonne glitzernde Wasser, in das sich ein paar kälteunempfindliche Schwimmer wagen, beobachten die fröhlichen Kinder, die sich im Sand und in warmen Pfützen suhlen, und versuchen, uns am Dünenrand unauffälligunserer Hosen und Jacken  zu entledigen und in die Badesachen zu schlüpfen. Da die Öffnungen der Strandkörbe all Richtung Meer und Sonne zeigen, gelingt uns die Umziehakrobatik  ganz gut,  wenn auch mit viel Köperakrobatik. Die Jüngsten sind wir ja nun auch nicht mehr, die Beweglichkeit hat dramatisch nachgelassen. Doch wir fallen nicht um, ziehen nicht aus Versehen die Badesachen falsch herum an, vertüddeln die Badetücher nicht in ein unentwirrbares Knäuel. Keiner der Strandgäste wird auf unsere Verrenkungen aufmerksam. Hoffen wir zumindest.

Plötzlich Frauenstimmen hinter uns. Hinter uns?? Tatsächlich. Zwischen Düne und Holzsteg ist noch ein Sandstreifen frei, auf den zwei Frauen einen Strandstuhl und einen Sonnenschirm schleppen. Eine alte Dame mit Rollator steht hilflos und verlegen dabei, bedankt sich pausenlos. Man sieht ihr an, wie gerne sie versuchen würde, ihren Klappstuhl selbst auseinanderzufalten und sich hinzusetzen.
„Vielen, vielen Dank“, sagt sie zu der blonden, jüngeren Frau gewandt. „Ich bin Ihnen so dankbar. Aber bitte machen Sie sich nicht noch mehr Mühe“, wehrt sie ab, als die Blonde versucht, den Sonnenstuhl noch ein wenig weiter nach außen zu bugsieren.
„Ich tue das doch gerne, wirklich!“, flötet die Angesprochene. “Ich freue mich immer so sehr, wenn ich helfen kann. Wissen Sie was, ich werde erst einmal Probe sitzen. Nur so können wir herausfinden, ob der Stuhl richtig steht. Wir wollen ja nicht, dass Sie mit ihm umfallen.“
Nee, denke ich. Das wär wirklich nicht wünschenswert. Aber nun lass doch die Frau endlich mal mit deinem süßlichen Gefasel in Ruhe, du Florence – Nightingale – Imitat. Die Frau ist alt und gehbehindert, aber doch nicht meschugge. Die Hilfe ist ihr unangenehm, siehst du das denn nicht? Nun geh schon endlich!

Florence Nightingale geht nicht. Sie sitzt Probe. Ist unzufrieden. Sie schiebt den Strandstuhl nach rechts, sie schiebt ihn nach links.
„So könnte es gehen“, sagt sie schließlich und schaut triumphierend zu ihrer Begleiterin, die bisher noch kein Wort gesagt hat und nun nickt.
„So ist es gut, gell?“ Wieder die säuselnde Stimme der Blonden. „Warten Sie, ich helfe Ihnen, sich hinzusetzen.“
Die alte Dame sitzt, bevor die selbsternannte Samariterin zugreifen kann.
„Na, na, das hätte auch schief gehen können. Nicht so hastig, alles mit der Ruhe“, sagt meine Therapeutin immer. „In der Ruhe liegt die Kraft!“
„Danke!“, sagt die alte Dame noch einmal. „Das war wirklich nett von Ihnen.“
„Sie müssen lernen, sich helfen zu lassen.“ Die Blonde ist nicht zu stoppen. „Ich weiß, das ist schwer. Aber geben Sie Ihren Mitmenschen doch eine Chance, gut zu Ihnen zu sein. Jeden Tag eine gute Tat, das gilt nicht nur für die Pfadfinder.“ Glockenhelles Lachen, dann tätschelt sie den Arm der alten Frau. „Wissen Sie, ich liebe es zu helfen. Nur dann fühle ich mich ganz.“
Die alte Dame schließt die Augen, nickt resigniert.
„So ist es richtig, meine Liebe. Ruhen Sie sich aus. Ich mache jetzt einen kleinen Spaziergang am Meer entlang, und dann hole ich Sie wieder ab.“
Die zweite Frau hievt ihre Tasche über die Schulter und macht Anstalten, der Samariterin zu folgen.
„Nein“, sagt diese und ihre Stimme wird eine Nuance heller und schriller. „Ich gehe allein. Am Strand muss ich einfach allein sein, um ganz bei mir zu sein. Um mich zu spüren. Da stört jede Begleitung. Jedes Gespräch. Jedes Wort ist zu viel. Nichts für ungut, aber beim Rauschen der Wellen muss ich in mich hineinhorchen, um zu erfahren, wer ich bin. Da stört jeder Mensch neben mir, jedes Wort aus fremdem Mund. Da bin ich ganz eins mit meinem Therapeuten. Ich bin da ganz rigoros sein. Wenn ich wieder das Bedürfnis habe, mich mit Ihnen zu unterhalten, sage ich es Ihnen. Aber jetzt müssen Sie mich gehen lassen. Ein Spaziergang am Strand, das ist Therapie pur. Wir sehen uns heute Abend beim Yoga.“
Sie winkt kurz mit der Hand und entschwindet. Nein, nicht ganz. Sie kommt ein paar Schritte zurück und flötet: „Sie kümmern sich doch jetzt sicher um die alte Dame. Sie werden sehen, wie befreiend es ist, gut zu sein und einem bedürftigen Mitmenschen zu helfen. Nur so finden wir zu uns selbst. Sehen Sie mich an!“ Mit diesen Worten schwebt sie von dannen Richtung Meer.
Völlig erstarrt steht die andere Frau neben dem Sonnenstuhl der alten Dame. Und geht dann schnellen Schrittes in die andere Richtung.

 

 

 

 

 

 

Exklusiv Wohnen

 

Geräuschlos gleiten die beiden Glastüren zur Seite und geben den Blick frei auf eine geräumige Empfangshalle mit eleganten Stahlrohrsesseln, Beistelltischen mit makellos geputztem Glas, auf denen kunstvoll arrangierte Spätsommersträuße ihren Duft verströmen. Ein Fußboden mit polierten Ahornfliesen zieht sich durch den ganzen  Raum. Gemütliche Sitzecken mit blauen Polstersesseln und tiefen quadratischen Tischen reihen sich entlang der weiß getünchten Wand. Im  Seitenflügel mit freiem Blick auf den gepflegten Garten  sitzen schweigend einige hochbetagtealte Heimbewohner vor weiß gedeckten Tischen auf rückenfreundlichen Stühlen. Für das Abendessen ist es noch viel zu früh. Besucher betreten die Lobby durch eine gläserne Drehtür, und die Stille des Raums legt sich auf die Eintretenden und nimmt ihnen die Luft zum Atmen. Leise und bemüht, auf dem Holzboden kein Geräusch zu machen, nähert sich Johanna  dem Empfangstresen. Sie wird nach ihrem Begehren gefragt und eine gepflegte Hand weist auf eine weiße Sitzgruppe ein paar Meter entfernt.

Sie sieht den gebeugten Rücken, das schüttere, wirr gekämmte Haar am Hinterkopf, kommt leise näher und ist überrascht, als sich die dünne, hinfällige Person umdreht und freudig ihren Namen ruft. „Johanna!“
Johanna hat eigentlich nicht damit  gerechnet, dass sie erkannt und sogar mit ihrem Namen angeredet wird. Ihr Herzschlag wird ruhiger. Sie tritt näher, zaubert den Blumenstrauß hinter ihrem Rücken hervor, umarmt die kleine,  Gestalt, deren Augen-Make-up verschmiert, deren Lippen übertrieben rot geschminkt sind.
»Du«, sagt die Gestalt, die einmal ihre hochverehrte Dozentin war, der sie so viel zu verdanken hat. »Das wollte ich nicht.«
»Was wolltest du nicht?«
»Dass du kommst.«
»Warum nicht?«
»Das ist mir peinlich. Mich hier so zu sehen.«
»Das muss dir nicht peinlich sein.«
Johanna zieht ein in Geschenkpapier eingeschlagenes Buch aus ihrem großen Lederbeutel.
»Und das ist für dich, Mia. Mein erstes Buch. Vom Verlag angenommen. Auch wenn du Krimis nicht magst. Aber schließlich habe ich das Schreiben von dir gelernt.«
Mia strahlt. Winkt aber bescheiden ab.
»Doch«, sagt Johanna. »Ohne dich würde ich heute nicht schreiben. Von dir haben wir alle viel gelernt.«
Wieder ein Lächeln über dem Gesicht der alten Frau. »Wirklich?«
»Ja, wirklich!«
»Was machen die andern?« Sie weiß noch alle Namen der Kursteilnehmer von damals.
Johanna ist verblüfft. Und das soll Demenz sein? Bei dem Gedächtnis? Sie fragt nach Tochter und Enkelkindern, bekommt detailliert Auskunft. Was macht Mia hier? Die ist doch nicht dement!
Plötzlich Tränen. »Würdest du Friedhelm anrufen, bitte! Ich habe in seit gestern nicht mehr gesehen. Er ist verschwunden, einfach verschwunden. Ohne mir etwas zu sagen.«
»War er heute Mittag nicht da?«
»Nein. Und gestern auch nicht. Ich mache mir solche Sorgen.«
Leises Scluchzen.J ohanna nimmt die weinende Frau in den Arm.
»Komm, wir rufen ihn an.«
»Ich habe seine Handy-Nummer vergessen.«
»Ich habe eure Festnetznummer. Handy-Nummern kann ich mir auch nicht merken.«
Es klingelt und klingelt am anderen Ende der Leitung. Niemand nimmt ab.
»Hast du Friedhelms Nummer in deinem iPhone gespeichert?«
Die alte Frau nickt, erhebt sich schwerfällig, behauptet, ohne Rollator gehen zu können. Langsam wanderbewegen sie sich zum Fahrstuhl.
»Da komm ich nicht rein«, sagt Mia. »Bei mir geht die Tür nie auf. Keiner erklärt mir, wie das geht.«
Johanna stutzt, zeigt, auf welchen Knopf Mia drücken muss, um den Fahrstuhl zu holen. Die Türen öffnen sich. Johanna lässt die alte Frau auf die Nummer der Etage drücken, auf der ihr Zimmer liegt. Wider Erwarten klappt es. Der Fahrstuhl hält in der zweiten Etage. Mia schaut zufrieden. Die Tür zum Zimmer steht weit auf. Ein schönes, großes Zimmer mit Fenstern bis zum Boden. Mia beginnt,  das Smartphone zu suchen.. In der Handtasche, im Schrank, in der Nachttischschublade.
»Das Handy hat er sicher mitgenommen«, sagt die Frau.
»Warum sollte er das tun?«
»Damit ich ihn nicht anrufe.«
Sie weint wieder. »Ich mache mir doch solche Sorgen. Meine ewige Angst bringt mich noch um.«
Johannas ruhige Antwort: »Wenn etwas passiert wäre, stünde die Polizei vor der Tür. Oder deine Tochter käme.«
»Ja, meine Tochter, die muss helfen. Würdest du sie bitte anrufen!«
»Kennst du ihre Nummer?«
Sie gibt Johanna die Nummer ihrer Tochter,  kennt sie erstaunlicherweise auswendig. Aber auch die Tochter meldet sich nicht. Langsam wird auch Johanna nervös. Hatte Friedhelm wieder einen Herzinfarkt? Liegt er hilflos zu Hause? Hatte er mit dem Wagen einen Unfall ?
»Deine Tochter ist bestimmt einkaufen«, sagt Johanna.
»Nicht um diese Zeit? Es ist fast 6 Uhr. Gleich gibt es Abendessen«, behauptet Mia.
»Lass uns in den Speisesaal gehen«, sagt Anna. »Wir versuchen es später noch mal mit dem Telefonieren.«
Die Frau weint. Still rinnen die Tränen über das zerfurchte Gesicht. Tröstend legt Johanna ihren Arm um die dünnen Schultern der alten Frau. Wo ist Friedhelm nur? Er ist doch sonst immer so lieb und hilfsbereit. Der lässt doch seine Frau nicht allein.
Johanna begleitet Mia zum Abendbrottisch, verabschiedet sich, verspricht Mann und Tochter anzurufen. Die Frau weint immer noch leise vor sich hin.
Im Café nebenan wählt sie noch einmal die Nummer der Tochter. Die meldet sich. Rastet aus.
»Meine Mutter soll meinen Vater in Ruhe lassen, sonst bricht der auch noch zusammen. Meine Mutter hatte heute Besuch von einer Nachbarin, konnte Papa da nicht mal wegbleiben? Spazieren gehen? Golf spielen? Einen Freund treffen? Das hält doch keiner aus.«
Johanna  bietet an, noch einmal hineinzugehen, um Mia zu sagen, ihr Mann käme morgen. Zum Mittagessen. Ganz bestimmt.
Sie betritt das Seniorenheim. Am Tisch sitzt Mia. Neben ihr Friedhelm.
Mia schimpft. »Er ist einfach weggeblieben. Hat mir nichts gesagt. Ich habe mir solche Sorgen gemacht.«
Der Mann schaut hilflos, zuckt mit den Schultern. Er habe einen dringenden Arzttermin gehabt, so kurz nach dem Herzinfarkt.
»Schau doch«, versucht Mia die aufgeregte Frau zu beruhigen, »du hast einen  lieben Mann. Er tut alles für dich. Alles.«
»Nein«, schreit die Frau. »Er treibt sich rum. Mit anderen Frauen. Ich will ihn nicht mehr sehen.«
Friedhelm nimmt ihre Hand und versucht,  sie zu streicheln.
»Geh weg«, schreit sie. »Hau ab! Ich will dich nie mehr sehen!«

Mia starb ein paar Monate später zu Hause, betreut von ihremMann, der sie bis hzum Schluss liebevoll pflegte und umsorgte.