Nicht ohne meinen Mann!
Nicht ohne meinen Mann!
»Hermann! Tock! Tock!«
Die zierliche ältere Dame zieht den dunkelblauen Blazer über die Schultern, zupft an ihrem hellrosa Seidenschal, schiebt den Gurt ihrer voluminösen Handtasche über den Kopf und packt mit energischen Griff den silberfarbenen Alukoffer .
»Hermann! Tock! Tock!«
Der ältere Herr, offensichtlich ihr Ehemann, lässt sich nicht aus der Ruhe bringen und hilft dem Taxifahrer, den schweren Koffer aus dem Fond zu wuchten. Dann zückt er sein Portemonnaie und reicht dem Fahrer einen Geldschein.
»Stimmt so!«
»Hermann! Tock! Tock! Tock!« Die Stimme der Frau klingt leicht gereizt.
Sie trippelt auf ihren Pumps in Richtung Flughafengebäude.
»Gemach! Gemach, Elisabeth!«, sagt der Mann. »Wir haben alle Zeit der Welt.«
In diesem Jahr ist der Flug nach Split wieder möglich und das Paar hat rechtzeitig gebucht. Die 2 G-Regelung gilt, Elisabeth und Hermann sind selbstverständlich zweimal geimpft. Die Abflugzeit ist mit 12:30 angegeben. Von Berlin-Airport. Sie haben sich im Reisebüro noch einmal erkundigt, um sicherzugehen, dass man tatsächlich vom Flughafen Berlin-Brandenburg abfliegen und dort auch wieder landen kann. Deutsche Ingenieurskunst.
Elisabeth ist ein wenig aufgeregt. Wie immer vor einem Flug. Tegel war so viel bequemer zu erreichen. Zur Sicherheit haben sie das Taxi frühzeitig bestellt, stehen vier Stunden vor der Abflugzeit an der gewaltigen Glastür der Eingangshalle, die sich lautlos öffnet. Beide setzen ihre Masken auf. Hermanns Brillengläser beschlagen sofort. Er nimmt die Brille ab. Elisabeth vergleicht die Abflugzeit auf der überdimensionalen Tafel mit ihrem Computerausdruck. Sie stimmen überein. Über drei Stunden bis zum Boarding. Sie geben die Koffer auf, die Warteschlange ist nicht lang. Welche Erleichterung, die Hände wieder frei zu haben. Im oberen Stockwerk zeigen sie Pässe und Impfbescheinigungen vor und bekommen ihre Boardingkarten ausgehändigt. Auf den Bändern wird das Handgepäck sorgfältig durchleuchtet. Reiseerfahren, wie sie sind, haben sie auch die kleinen Kosmetik- und Medizinfläschchen in durchsichtige Klarsichthüllen gepackt. Bodycheck. Hermann zieht den Gürtel aus den Schlaufen, Elisabeth streift die Schuhe ab. Das Bodenpersonal wünscht ihnen einen guten Flug.
Mit den Bordkarten in der Handtasche verschwindet Elisabeth in der weitläufigen Verkaufslandschaft des Flughafens. Sie geht gerne shoppen und möchte die Zeit nutzen. Es gibt so viele schöne Geschäfte im Flughafengebäude. Vielleicht findet sie ein nettes Blüschen.
Hermann hasst Shoppen. Er kauft eine Flasche stilles Wasser zu einem sündhaft teuren Preis, sucht sich einen bequemen Sessel hinter der großen Info-Tafel mit den Abflugzeiten, denn kurzsichtig wie er ist, kann er auf der Anzeigetafel sowieso nichts erkennen. Er zerrt seinen Laptop – ohne den er sich nie aus Berlin wegbewegen würde – aus der Umhängetasche. Der Internet-Anschluss funktioniert perfekt.
Elisabeth findet zwar keine Bluse, aber ein paar Mitbringsel für die Enkelkinder: ein entzückendes Micky-Maus-Kleidchen für Irena, ein Dartspiel für Jonas. Die Kinder werden sich freuen, auch wenn Hermann wieder murren wird über die unnötigen Ausgaben. Dabei ist es ihr Geld, das sie ausgibt. Schließlich hat sie ihre eigene Rente.
Die Zeit vergeht schneller als gedacht. Elisabeth trinkt einen Latte Macchiato und gönnt sich ein Schokoladencroissant und begibt sich zum angezeigten Gate, als sie hört, dass der Lufthansa-Flug nach Split aufgerufen wird, erstaunt, dass das Boarding schon begonnen hat. Hat sie den ersten Aufruf überhört? Sie schaut sich nach ihrem Hermann um, aber der ist nirgends zu sehen. Mal wieder typisch, denkt sie. Überpünktlich wie immer sitzt Hermann sicher schon im Flugzeug. Richtig, als sie sich im Flieger durch den vollen Gang quält, sieht sie im hinteren Drittel der Maschine einen Mann mit Strohhut. Da ist er ja. Hätte er nicht auf sie warten können?. Mit einem Vorwurf auf den Lippen nähert sie sich dem Mann mit Hut und, ja, da stellt sie fest, dass das gar nicht ihr Mann ist. Ein Wildfremder schaut sie erstaunt an.
»Das ist er nicht!«, schreit sie so laut, dass die Leute um sie herum zusammenzucken und die Flugbegleiterin versucht, zu ihr durchzukommen.
»Das ist nicht mein Mann!« Elisabeth ist fassungslos. Und schrill. Ihre Stimme schneidet durchs ganze Flugzeug. «Mein Mann ist nicht da! Er muss noch in der Halle sein. Sie müssen auf ihn warten.«
Die Stewardess eilt zum Flugkapitän. Der ruft den Tower an, erklärt die Verzögerung, bittet um einen späteren Slot für den Start. Ein Passagier werde vermisst.
»Nur zehn Minuten«, sagt die Flugbegleiterin bedauernd zu Elisabeth. »In zehn Minuten muss ihr Mann an Bord sein.«
Elisabeth gerät in Panik. »Ohne ihn kann nicht fliegen!«
Die junge Frau zuckt mit den Schultern.
»Ich will raus.«, schreit Elisabeth. »Ich fliege nicht ohne meinen Mann!«
Sie drängt sich zwischen den Passagieren durch zur Tür, die noch offensteht.
»Das geht nicht«, sagt die Stewardess. »Ihre Koffer sind verladen. Wir dürfen nur Koffer mitnehmen, wenn der Besitzer an Bord ist. «
»Ist mir egal«, schreit Elisabeth. »Meinem Mann ist etwas zugestoßen. Ich muss hier raus.«
Sie macht Anstalten, die Treppe hinunterzusteigen.
»Wir werden Ihren Koffer ausladen müssen«, ruft die Flugbegleiterin hinter ihr her.
»Sicherheitsbestimmungen.«
Das hört Elisabeth schon nicht mehr. Sie hastet die Stufen hinunter. Es kümmert sie nicht, dass die Koffer im Bauch des Flugzeugs hektisch gesucht und glücklicherweise schnell gefunden und ausgeladen werden. Das ist ihr ebenso egal wie die murrenden Passagiere an Bord, der genervte Flugkapitän, die hilflose Flugbegleiterin, die so eine Situation noch nie erlebt hat. In Elisabeths Gehirn pulsiert nur eine Frage: Wo ist ihr Hermann? Wo?
Sie zückt ihr Handy, wählt die Nummer seines iPhones. Nichts. Hat er wahrscheinlich ausgeschaltet. Hermann interessiert sich ja nur für seine Spiele. Kommunikation ist für ihn ein Fremdwort. Geschähe ihm recht, wenn sie ihn einfach stehen ließe und allein flöge. Tut sie aber nicht. Sie hastet zurück zur Wartehalle vor den Abflug-Gates. Dort sitzt ein einzelner Mann. Nein, nicht Hermann. Ein unbekannter Mann.
Elisabeth stürmt auf ihn zu. »Mein Mann ist weg. Bitte, bitte, würden Sie wohl durch die Herrentoilette gehen, um zu sehen, ob er dort ist. Vielleicht ist ihm schlecht geworden.«
Der Mann zieht die Augenbrauen hoch, steht aber auf und sagt »Selbstverständlich!«
Elisabeth beißt sich auf die Lippen. Trippelt auf und ab. Der Mann kommt zurück, hat alle Toiletten inspiziert. Nichts.
»Danke«, sagt Elisabeth und hastet weiter.
Und das Ende der Geschichte? Ein Flughafenangestellter fand Hermann schließlich unter der besagten Anzeigetafel sitzend und in ein Computerspiel vertieft. Er sah nichts. Er hörte nichts. Seine Frau würde ihn schon rechtzeitig abholen.
Neuer Treffpunkt: die Gepäckausgabe. Gar nicht so einfach. Für Hermann eine Strecke von zwei Kilometern, und das bei seinem kaputten Knie. Das Laufband funktionierte nicht. Für Elisabeth ein Problem, da sie beim Einchecken die BRD verlassen hatte und wieder einchecken musste. Und natürlich eine Covid–Impfung vorweisen musste, die sie nicht bei sich hatte. Die hatte Hermann eingesteckt..
Wie ging die Geschichte denn nun aus? Es ist kaum zu glauben. Es gab ein Happy End! Irgendwann trafen sie sich bei der Gepäckausgabe.
Mordgelüste auf Elisabeths Seite? Den Scheidungsanwalt angerufen? Weit gefehlt! Zwei Tage später stehen beide wieder im Flughafen, warten gemeinsam, dass das Boarding für die Maschine nach Split beginnt. Diesmal hat Elisabeth ihren Hermann nicht aus den Augen gelassen. Kauft nichts. Nichts für die Enkelkinder. Auch kein Blüschen für sich. Und den Laptop, den händigt sie ihrem Ehemann erst am Urlaubsort aus.
Wenn das nicht Liebe ist!