Archive for August 2014

 
 

Praia do Meco – Im Gericht

Eine schwarze Monsterwelle kam auf den Strand zugerast, wurde größer und größer. Das brausende Wasser überrollte Menschen, Liegen, Sonnenschirme, jagte donnernd in Richtung Strandpromenade. Riss alles mit, was ihr in den Weg kam, auch die Schreie der Menschen.
Stöhnend fuhr er hoch. Er starrte in die Dunkelheit. »Querido, was hast du?«, eine besorgte Stimme, die kühle Hand seiner Frau. »Hast du schlecht geträumt?«
Der Jugendstaatssekretär Emidio Guerreiro wälzte sich aus dem Bett. Erst hatte er stundenlang wachgelegen, sich von einer Seite auf die andere gedreht. Dann kamen die Albträume. Er murmelte Unverständliches, nahm die nass geschwitzte Bettdecke und das zerknüllte Kopfkissen unter den Arm und schlich nach nebenan ins Gästezimmer.

Kaum machte er die Augen zu, sah er den übergroßen Mund des Rektors vor sich, die farblosen Lippen zu einem Strich gedehnt, die vom Rauchen angegilbten Zähne, klein und spitz wie bei einem Frettchen:
»Ich bin gegen jede Form von Zensur. Jeden Tag sterben Leute auf der Straße, aber deshalb werden wir niemandem verbieten, auf die Straße zu gehen«
Wie bitte, hatte er gefragt, die Opfer sind schuld, nicht die Täter? Der Rektor hatte gar nicht verstanden, was er meinte. Der Staatsanwalt hatte eingegriffen. »
»Bei allem Respekt,  Exzellenz«, hatte er gesagt, »hier geht es in erster Linie um die Organisatoren der Rituale, nicht um die Erstsemester, die sich ihnen unterwerfen müssen. Ein tragischer Ausgang!«
» Ja, ja, tragisch, tragisch, tragisch. Egal, welche Zeitung man aufschlägt. Ich kann das heuchlerische Geschrei nicht mehr hören«, polterte der Rektor.

Als hätten diese schreibenden Schmierfinken eine Ahnung, was tragisch bedeutete, dachte der Rektor. Unschuldig schuldig werden: Wer war hier unschuldig schuldig geworden? Er als Rektor der Universität? Das gestörte Kerlchen, das den Dux spielte und sich nun heulend bei seinen Eltern verkrochen hat? Er habe das nicht gewollt, war das einzige, was man aus ihm herausbekommen hatte. Und jetzt das Geschrei, die Aufnahmerituale zu verbieten. Verbieten ist ja immer gut, das ist einfach, kommt gut an, beruhigt die Volksseele und kostet nichts. Er war jedenfalls gegen jede Form der Zensur. Jeden Tag starben Leute auf den Straßen – besonders hier in Portugal – wo das Auto zum Sozialprestige gehörte und keiner dieser rasenden Machos den Wagen wirklich beherrschte, ganz zu schweigen vom Alkoholkonsum. Schrie er deswegen nach Verboten? Keine Autos mehr einführen oder den Leuten verbieten, auf die Straße zu gehen? Sie könnten von irgendeinem Idioten überfahren werden? Das war doch irre.
Klar ging es ihm um den Ruf seiner Universität. Universidade de Lusofana, eine private Institution; es war schwierig, jedes Jahr die Fördergelder zusammenzukriegen. Natürlich war jeder Neustart mit Problemen verbunden. Die Uni hatte  keine lange Tradition wie Coimbra, sie konnte sich noch nicht leisten, die besten Studenten auszusuchen, deshalb aber von einer drittklassigen Universität zu sprechen, traf die Sache nicht. Natürlich nahm sie jeden auch noch so schlechten Abiturienten auf, wenn die Eltern genügend zahlten. Die Universität brauchte das Geld, denn sie musste jede Menge Stipendien vergeben, sonst bekam die die Mindestanzahl  der Studenten gar nicht zusammen. Ihm blutete schon das Herz, wenn er sich die Zeugnisse anschaute oder die akademischen Leistungen gerade der Stipendiaten aus den früheren Kolonien. Aber immerhin war das genau das Ziel der grupo lusofana, den Bildungsgrad  in diesen Ländern zu erhöhen. Sonst bekämen sie überhaupt keine staatlichen Gelder.
Selbstverständlich wollten diese jungen Leute dazugehören, dazugehören zu der akademischen Elite des Landes. Und  wie wollten sie das bewerkstelligen? Durch Aufnahmerituale natürlich. Ein alter Zopf. Kannte er von der Armee zur Genüge. Auch das altehrwürdige Coimbra hatte vor Jahren seinen Skandal, als die reichen Eltern einer der betroffenen Studenten klagten, weil der Schwächling die Mutprobe nicht durchhielt.
Zugegeben, am Strand war die Sache aus dem Ruder gelaufen. Er glaubte dem Dux  sogar, dass der die Konsequenzen nicht übersehen hatte.  Der Junge war nicht dumm. Nein, eigentlich recht intelligent. Aber Intelligenz und Brutalität schlossen sich  nicht aus. Sah man schon an seinem Vater, einem der einflussreichsten Unternehmer im Lande. Der Junge hatte früh angefangen, in die Fußstapfen des Vaters zu treten. Die Organisation der jährlichen praxes war ein Übungsfeld. Aber die  andern sechs – natürlich ein Drama, dass sie ihre Dummheit mit dem Leben bezahlen mussten – waren keine geistigen Leuchten, er hatte sich die Zeugnisse angesehen. Also wichen sie auf eine Nebenkarriere aus, wollten dazugehören, schmeichelten sich ein beim Dux, waren seine Untergebenen. Kannte er doch.  Vive Salazar.
Natürlich war die Krabbelei am Strand auf allen Vieren mitten im Dezember nur lächerlich, dazu noch mit Steinen um die Fußgelenke. Die paar Zeugen – alle naive Dorfbewohner – hatten wohl ihren Augen nicht getraut und sich  hundertmal bekreuzigt. Die Elite des Landes auf Knien im Sand robbend.  Die Beantwortung von Fragen mit dem Rücken zum Meer war allerdings originell. Zumindest Kopfarbeit.  Bei Nichtbeantwortung ein paar Schritte zurück Richtung Meer fand er  nicht schlecht. Sollte man auch in den Seminaren einführen. Ha, ha, ha. Nicht immer dieses Verständnisgesäusel. Nein, Konsequenzen tragen für Nichtwissen, egal ob aus Dummheit oder Faulheit.
Das Meer war seit Tagen unruhig, die Wellen hoch. Als hätten die noch nie was von Monsterwellen gehört. Der Dux hatte sie einfach zu tief ins Wasser gehen lassen. Er selbst war natürlich auf dem trockenen Sand stehengeblieben, seine Macht auskostend. Eine unheilvolle Konstellation. Intelligenz  und Herrschsucht gegen Dummheit und der Sehnsucht nach Gehorsam und Unterwerfung, dem unbedingten Wunsch dazuzugehören.  Das politische Establishment hing mit drin.  Und sein Job als Rektor war es, die Reputation seiner Universität zu schützen. Gottseidank stand er nicht allein da. Auch seine Kollegen fürchteten um ihren Ruf. Um ihren Job. Aber die Presse würde sich abregen, die Meldungen würden aus den Zeitungen verschwinden. Der Prozess wird ohne Beteiligung der Öffentlichkeit stattfinden, das Thema war zu brisant. Kein Politiker hatte Interesse, das portugiesische Universitätswesen der Lächerlichkeit preiszugeben.  Sie mussten die ganze Sache nur aussitzen.

Der Staatsanwalt hob wieder einmal theatralisch die Hände. »Meine Herren, meine Herren, lassen Sie uns vernünftig bleiben. Wir müssen eine Lösung finden. Die Presse wartet draußen. Die Eltern der Opfer auch.«
Es gehe ihm um den Ruf seiner Universität, sagte der Rektor. Die Investorengruppe Lusófona habe die Universität gegründet, um an einer privaten Uni auch den Jugendlichen ein akademisches Studium zu bieten, die…«
»für eine renommierte Universität zu schwache Leistungen bringen«, warf der Staatsanwalt ein und erntete einen vernichtenden Blick. Doch das war die Realität. Alle wussten um die Stipendien und auch, warum sie vergeben wurden. So konnten Gelder aus staatlichen Bildungsprogrammen abgeschöpft werden. Nein, hatte der Rektor das Gespräch zusammengefasst und sich eine Zigarre aus dem silberbeschlagenen Etui genommen, die Uni treffe keine Schuld. Sie müssten nur auf die Aussagen des einzigen Überlebenden warten.
»Der hat sich seit Wochen im Haus seiner Eltern versteckt und würde mit Genehmigung der Staatsanwaltschaft abgeschirmt«, behauptete der Jugendstaatssekretär. Schließlich sei der Vater des jungen Mannes ein nicht ganz unbekannter Unternehmer.
Der Rektor ignorierte den Einwurf, sah den Staatsanwalt an. »Wir sitzen alle im selben Boot und sollten uns nicht gegenseitig den schwarzen Peter zuschieben.«
Er nicht, er sitze nicht im selben Boot, hatte Emidio Guerreiro gesagt, aber die andern beiden Herren hatten mitleidig gelächelt. Natürlich nicht, weder vom familiären Hintergrund noch von den akademischen Würden her konnte er ihnen das Wasser reichen.

Emidio Guerreiro wusste, an Schlaf war in dieser Nacht nicht mehr zu denken. Er ging ins Wohnzimmer, machte die Stehlampe an und goss sich ein Glas Periquita ein. Morgen früh würde er den Chefredakteur vom Diario anrufen. Oder hatte der auch in Coimbra studiert?

 

 

fredakteur vom Diario anrufen. Oder hatte der auch in Coimbra studiert?

Praia de Meco 2

Ja, ja, ja, tragisch, tragisch, tragisch. Egal, welche Zeitung man aufschlägt. ich kann das heuchlerische Geschrei nicht mehr hören. Als hätten diese schreibenden Schmierfinken eine Ahnung, was tragisch bedeutet. Unschuldig schuldig werden: Wer ist hier unschuldig schuldig geworden? Ich – als Rektor der Universität? Das gestörte Kerlchen, das den »Dux« spielte und sich nun heulend bei seinen Eltern verkrochen hat? Er habe das nicht gewollt, ist das einzige, was man aus ihm herausbekommt. Und jetzt das Geschrei, die Aufnahmerituale zu verbieten. Verbieten ist ja immer gut, das ist einfach, kommt gut an, beruhigt die Volksseele und kostet nichts.
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Initiationsrituale – Praia do Meco

 

Der Wind blies ihr ins Gesicht, als sie aus dem Haus trabte. Weißliche Atemwolken vor ihrem Mund. Jeannette zog die Kapuze hoch, das Wolltuch vors Gesicht. Bleich und rund hing der Mond über dem Meer, immer wieder verdeckt von jagenden Wolkenfetzen. Nur wenige Grade über null. Keine gute Idee, das warme Bett zu verlassen, um in den Dünen zu joggen, auch wenn die Stirnlampe einen schwachen Schein warf, der die Konturen des Pfades vor ihren Füßen ein wenig trittsicherer machte. Sie hatte nicht einschlafen können. Gerhard hatte an diesem Wochenende keinen Bereitschaftsdienst. Sie solle doch mal ausspannen, hatte er gesagt, ihr angeboten, sich um die beiden Jungs zu kümmern. Der FC Porto spielte gegen Benefica Lissabon. Eine gute Gelegenheit.
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Um nicht zu vergessen

Den alten Plunder wollte sie nicht. Widerwillig zog Eva-Maria die zerknitterte Bettwäsche, die verwaschenen Handtücher aus den geöffneten Schränken. Morgen würde das Entrümplungsunternehmen kommen. Die Schränke, Tische, Stühle, das alte durchgesessene Sofa, das quietschende Bett, das der Vater nach dem Tod der Mutter durchgesägt hatte, die abgetretenen Teppiche und all die anderen Überbleibsel eines fast 80-jährigen Lebens würden unter der Plane eines Kleinlasters verschwinden. Auf Nimmerwiedersehen. Nein, sie konnte nichts brauchen in ihrer großen hellen Wohnung mit den modernen Designermöbeln. Nein, auch nicht zur Erinnerung.
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Die sind weisungsgebunden

Erst drohen sie mir mit Ordnungsgeld, jetzt sogar mit Haft. Uneidliche Falschaussage. So ein Unsinn. Und dabei geht es zum dritten Mal um diesen Schwarzen, diesen Drogenheini mit dem unaussprechlichen Namen. Der schluckt Kokainkügelchen und wundert sich, warum dann Brechmittel eingesetzt werden.  An die Opfer denkt keiner, nur immer an die Täter. An wie viele Kinder hat er denn auf dem Schulhof Drogen vertickt? Ist unseren Gutmenschen ja egal. Hauptsache,  der Täter kommt frei. Schwere Kindheit, jaja, Flüchtling aus Sierra Leone, wie schrecklich. Die können ja gerne kommen, wenn sie sich an unsere Gesetze halten. Niemand hat den gezwungen, Drogen zu verkaufen. Höchstens die eigenen Leute. Die verdienen sich dann goldene Nasen.
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Ich bin Künstler

Claude geht zum Küchenschrank, nimmt eine halbvolle Flasche Chivas Regal heraus. Er schüttet die gelbbraune Flüssigkeit in ein Glas, randvoll, zündet sich eine Zigarette an, inhaliert. Vor ihm auf dem Küchentisch liegt der Brief mit dem Absender der JVA. Der junge Mann lässt sich auf den Küchenstuhl fallen, reißt den Umschlag auf.
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Soll das schon alles gewesen sein?

… ist ja auch wirklich nett von ihm mir eine Auszeit zu geben geht einem ja auch auf den Geist das ewige Hausfrauen- und Muttersein obwohl es lässt sich aushalten hier an der Algarve das Wetter ist prima auch im Winter das Licht über Lissabon ein Traum und dann die Wochenendpartys in Cascais unter den blühenden Bougainvilleas und mit rotem Borba im Glas wenn die Portugiesen uma casa portugesa singen da geht mir das Herz auf wirklich Fado macht mich ganz verrückt Amelia und so aber ich werde in einem Jahr fünfzig und soll das schon alles gewesen sein
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Natascha hieß sie

Er war glückselig, wenn am Heiligen Abend der Weihnachtsmann klingelte. Die Kinder in der Schule verlachten ihn und sagten, einen Weihnachtsmann gebe es gar nicht. Wahrscheinlich habe sich nur sein Papa verkleidet oder sein Onkel. Er schluckte und sagte nicht, dass er keinen Papa und keinen Onkel hatte und allein mit seiner Mama in einer kleinen Zwei-Zimmerwohnung lebte. Aber sein Berufsziel stand fest, er wollte Weihnachtsmann werden und mit einem großen Sack von Tür zu Tür ziehen, um den Kindern Geschenke zu bringen.
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